Ann kommt im August 94 mit Sauerstoffmangel, Herzfehler und einer Rechenschwäche die ihr Leben prägen auf die Welt.
Anns Sauerstoffmangel ist der Eltern größte Sorge. Der Furcht vor möglichen Konsequenzen soll die Tochter mit Leistung begegnen. Auf Wunsch der Eltern beginnt sie Leistungssport.
Noch vor Einschulung beherrscht die kleine Ann das Lesen und besucht, auf Wunsch ihrer Eltern, Förderprogramme. Ann soll auch in der Schule besser sein als sie ohne wäre.
Die Eltern wünschen Ann ein leichtes Leben, weshalb sie Ihre Tochter vor einem schweren Leben schützen möchten.
Ann lernt zu denken, dass – wo etwas misslingt – sie lediglich nicht gut genug ist. Wenn etwas zukünftig misslingt, sucht sie die Schuld bei sich.
Rechenschwäche: kein räumliches Vorstellungsvermögen
In Heimatkunde lernt sie die Landkarte auswendig, da den Menschen mit Rechenschwäche räumliches Vorstellungsvermögen fehlt.
In Mathematik hält sie die Grundschulzeit über eine Eins. Nicht weil sie rechnet, sondern weil sie auswendig lernt. Jede Aufgabe.
Für die fünfte Klasse wechselt Ann auf das Gymnasium. Ihr Ehrgeiz hilft ihr, dieselben Ergebnisse wie andere zu erzielen. Dafür lernt sie, anders als die anderen, auch nachmittags. Was ihre Mitschüler in der Schulpause erledigen, dafür benötigt sie Stunden. Sie formuliert Englisch-Hausaufgaben für Klassenkameraden und erhält dafür Mathe-Lösungen. Erfragen Lehrer die Rechenwege, schweigt sie.
Ihre Verhaltens-Note weicht vom Durchschnitt ab.
Bei ihrem Bruder wird zu dieser Zeit Legasthenie diagnostiziert. Eine Leseschwäche, die schon beim Onkel wie auch dessen Tochter diagnostiziert wurde.
Ann kommt in die sechste Klasse. In ihr Leben kommen Taschenrechner und Geografie hinzu. In Geografie fällt ihr die Orientierung auf Landkarten schwer. In Kunst ist es die Räumlichkeit. In ihrem Kopf sind Bilder, die sie nicht wie andere aufs Papier bringt.
Als sie in Hauswirtschaft einen dreidimensionalen Raum zeichnet, erhält sie eine Sechs. Der Sinn für Lineal und Dreieck erschließt sich ihr nicht.
Die Rechnungen in Mathematik, Biologie und Chemie werden komplexer. In Geografie lernt man jetzt die Weltkarte. Bundesländer hatte sie nach Formen auswendig gelernt. Die Weltkarte wird zur Überforderung. Russland ist das größte zusammenhängende “Ding” für Ann. In Mathematik, im Fach Biologie wie auch in Chemie bricht sie von “sehr gut” auf “befriedigend”ein. Ihr Lernpensum erhöht sich. Die Eltern streichen ihren Leistungssport, um den Leistungsabfall in der Schule zu beheben.
Ihre Mutter wird Leiterin einer Selbsthilfegruppe für Eltern mit legasthenen Kindern.
Um ihre Mutter zu unterstützen, liest sie sich in das Thema ein und hält als Schwester eines legasthenen Bruders Vorträge über ihre Erfahrungen mit demselben.
Wenn im Schulunterricht Seitenzahlen genannt werden, damit die Schüler mittels Büchern dem Unterricht folgen, blättert Ann lange ohne etwas zu finden. Um ihre Unfähigkeit nicht auffliegen zu lassen, kommt sie bald ohne Schulbücher.
Die sechste Klasse des Gymnasiums wiederholt Ann. Sie lernt auswendig was sich auswendig lernen lässt und bekommt schließlich ein Einser-Zeugnis. Die siebte Klasse verläuft reibungslos. In der Achten beginnen Schulkameraden sie zu mobben, für das was sie nicht kann: Zahlen.
Eine Rechenschwächen bei Mädchen gilt oft als normal. Die Erwägung sich einer Diagnose zu unterziehen, verzögert sich dadurch teils erheblich. Die Erleichterung für betroffene Mädchen, durch die Erkenntnis einer Diagnose nicht dumm zu sein, ebenfalls. Legasthenie taucht statistisch bei Jungen häufiger auf. Eine unleserliche Handschrift wird denselben eher verziehen. Die Erwägung sich einer Diagnose zu unterziehen, verzögert sich. Die Erleichterung ebenfalls.
In Anns Fall dauert die Diagnose 20 Jahre. Lange heißt es, sie sei ein Mädchen und das Mädchen diese Probleme mit Naturwissenschaften nunmal hätten. Zusätzlich manifestiert sich ein Glaubensatz in Ann: Mädchen können keine Zahlen.
Nachdem das Mobbing am Gymnasium Überhand nimmt, die Eltern zunächst keinen Schulwechsel billigen, setzt sich Ann bei ihnen durch und wechselt innerhalb des achten Schuljahres in die neunte Klasse einer Mittelschule.
Ann wird auch dort gemobbt. Weil sie vom Gymnasium kommt, weil sie von der Achten direkt in die Neunte kommt — das missfällt ihren neuen Mitschülern.
Ihre Noten werden besser, außer in Mathematik. In der Sportklasse ist sie das einzige Mädchen. Man klaut ihre Kleidung und Mathebücher. „Die brauchst du nicht“, sagt man ihr.
Ihre Freunde sind nicht mehr in derselben Klasse. Ann muss sich allein helfen. Aufgrund des stetigen Mobbings mancher Mitschüler, distanzieren sich mehr und mehr Klassenkameraden und später sogar Freunde von ihr. Doch sie erträgt die Situation in dem Glauben, dass das richtige Leben erst nach der Schule beginne. Das man Mathe, Geografie und viele andere Inhalte dafür nicht brauche. Sie glaubt an das Beste in jedem und das jeder eine zweite Chance verdient und das sie anderen helfen kann.
Eine Freundschaft überlebt: Zu einem Jungen, den sie später ihren Partner nennt. Er weiß nichts von ihrem Schicksal, der Dyskalkulie, nichts vom Mobbing oder dem Druck der Eltern.
Er geht auf eine andere Schule. Sie treffen sich an den Wochenenden. Sein Steckenpferd: Mathematik. Er versucht ihr alles zu erklären. Sie fragt ihn bei Rechnungen nach Lösungswegen, weil sie verstehen will. Er sagt, die mache er im Kopf.
Ann besucht mit ihrer Mutter den Kongress des Landesverbandes für Legastheniker in Erfurt und lernt Gründungsmitglieder der Jungen Aktiven Legastheniker und Menschen mit Dyskalkulie kennen.
Der Bundesverband für Legasthenie will ein Summer-Camp für Interessierte aus ganz Europa auf Malta organisieren. Ann begleitet ihre Mutter.
Auf Malta spricht Ann mit Betroffenen erstmals über ihre eigenen Schwierigkeiten mit Zahlen — das erste Mal hört man ihr zu. Zum ersten Mal stellt man ihr die richtigen Fragen und das erste Mal findet Ann Worte die die Probleme beschreiben die sie erlebt. Man rät ihr zu einem Test, erstmals und dringend.
Für die Reise nach Malta muss sie alleine von Leipzig nach Frankfurt fliegen, von dort Richtung Malta. Ihr erster Flug. Alle wichtigen Informationen bestehen aus Zahlen.
Ihr Freund bringt sie zum Flughafen in Leipzig. In Frankfurt hilft ein Security-Mann und bringt sie zum Gate. Sie wartet fünf Stunden auf ihren Flug.
Sie ist immer pünktlich oder wie sie sagt: Lieber eine Stunde früher da, als fünf Minuten zu spät.
Sie trägt eine Armbanduhr mit Zeigern, ohne Zahlen. Ohne sie lesen zu können trägt sie die Uhr um eine Uhr zu tragen. Wenn jemand nach der Zeit fragt, antwortet sie, “guck selber drauf” und gibt sich beschäftigt.
Wenn sie mit der Bahn reist, bringen die Eltern sie zum Bahnhof. Sie plant stets eine Stunde vor Abfahrt am Bahnhof zu sein. Sie sagt ihnen, weil sie noch in die Bahnhofsbuchhandlung will. Damit ihr genügend Zeit bleibt.
In Leipzig holt ihre Oma sie sonst stets ab. Weiterführende Züge merkt sie sich immer anhand der Gleise, nicht der Zahlen. Ihre fragile Welt bricht zusammen, wenn ein Zug an einem anderen Gleis abfahren muss. Dann muss sie Menschen fragen, alle Text-Anzeigen an jedem Gleis lesen, um die falschen Gleise auszuschließen und das Richtige zu finden.
Auf Malta erzählt sie von ihren Reise-Erlebnissen in Frankfurt. Man rät ihr sich testen zu lassen. Ann hat Angst. Vor der Möglichkeit, dass man bei ihr eine Rechenschwäche diagnostiziert.
Nach Malta erzählt sie ihrer Mutter von den Gesprächen mit Betroffenen aus dem Camp. Von Mädchen wie Jungen die nicht können was auch sie nicht kann. Sie erklärt ihrer Mutter erstmals ihre schlechten Noten in diesem Zusammenhang.
Die Mutter glaubt nicht. Ann glaubt ihrer Mutter.
Eines der Gründungsmitglieder der Jungen Aktiven bleibt beharrlich, empfiehlt Ann weiterhin einen Test, um zu erkennen dass sie nicht dumm ist. Die Beharrlichkeit nimmt ihr die Angst vor dem Ergebnis und auch vor der Erkenntnis. Sie lässt sich testen. Ohne ihre Eltern. Die Familie ihres Freundes finanziert den Test.
Der Gedanke dumm zu sein kommt aus der Schule, durch Lehrer die behaupten, dass sie als Mädchen Dinge nicht kann. Das Gleiche geschieht durch die Jungs, die sie als Mädchen für zu dumm für Mathematik halten. Anns Glaube ist Ergebnis der Annahmen anderer.
Im Duden-Institut macht sie den Test. Sie besteht den Test nicht und erhält die Diagnose zur Dyskalkulie mündlich vorab. Ihr Freund glaubt nicht an das Diagnoseergebnis. Andere Menschen auch nicht. Eher daran, dass sie Mädchen ist und zu faul Zahlen zu verstehen. Ann ist zerrissen.
Dabei geht es nicht nur um Mathematik. Es ist der Alltag — Bezahlen mit Geld, Zeit organisieren und einschätzen, einkaufen, Wechselgeld, Orientierung oder Uhrzeiten lesen. Ann will oft zu viel für zu wenig Geld einkaufen.
Das offizielle Ergebnis kommt 14 Tage später. Inzwischen macht grade eine Ausbildung zur Erzieherin. Ein positives Ergebnis, sprich die Bestätigung der Dyskalkulie wäre eine Erleichterung — einerseits. Andererseits ist Angst in ihr, die Ergebnisse mit anderen zu teilen. Angst davor gegenüber anderen Nachteilsausgleich zu erhalten, erleben, das andere denken könnten, dass sie bevorteilt würde. Sie hat den Ärger mancher Eltern und Mitschüler gegenüber legasthenen Menschen beobachtet. Zudem erklären manche Menschen ihr, dass es Dyskalkulie nicht gebe. Die Forschung zur Dyskalkulie ist noch jung im Vergleich zu der der Legasthenie. Es gibt Menschen, die Heilung in Tabletten-Form erfolgreich verkaufen. Wie Pillen gegen Homosexualität.
Ann wird krank. Ihre Herzkrankheit holt sie wieder ein. Welche genau weiß keiner. Sie kippt mitunter um. Eigentlich schon ihr Leben lang. Mit dreizehn bekommt sie einen Herzkatheter. Für die Ärzte war ihre Gesundheit damit wieder hergestellt. Alle Ärzte attestierten vormals Gesundheit. Und das alles andere Einbildung sei. Das glaubt sie bzw. sie glaubt, dass sie zu viel mache. Sie findet die Schuld bei sich. Das vielleicht das Mobbing eine belastende Rolle spielt aber alles wieder vergeht. Sie versucht nicht mehr daran zu denken, dass etwas mit ihrem Herz nicht stimmt. Sie will glauben das sie gesund ist.
Während der Ausbildung kippt sie häufiger um. Es folgt die Diagnose, dass der Leistungssport und der einstige Sauerstoffmangel im Laufe der Zeit zu drei Herzfehlern geführt haben — ein zu schneller, manchmal ein zu langsamer Herzrhythmus. Hin und wieder schlägt ihr Herz kurz nicht. Sie wird dann bewusstlos für kurz. Normal wacht sie von alleine wieder auf oder sie stürzt, wie sie selbst es beschreibt: Kurz stürzen.
An einem Tag in jenem Sommer wacht sie morgens auf, redet wirr, ihr Herz rast, man bringt sie ins Krankenhaus. Die Geräte schlagen nachts Alarm. Sie wacht nicht mehr auf. Am morgen erzählen die Ärzte von einer Reanimation. Eine Woche später lebt sie mit einem Herzschrittmacher. Wäre sie zuhause geblieben, wäre sie tot.
Aufgrund des defekten Herzens und der Abwesenheit während der Ausbildung verweigert man ihr den Abschluss. Sie kann die Facharbeit nicht mehr abgeben und die Prüfung nicht mitschreiben. Sie erhält kein Fachabitur und kein Ausbildungszeugnis. Sie wird keine Erzieherin. Das ist was sie wollte: anderen helfen das schwere Leben zu verhindern.
Man sagt ihr, nach einer Reha kann sie den Abschluss nachmachen. Nach langer Wartezeit macht sie darum eine Reha. Sie fragt danach erneut bei der Schule an. Die verweigert erneut den Abschluss der Ausbildung. Sie versucht es an anderen Schulen, doch alle schätzen die Gefahr eines Herzschrittmachers gleich ein. Niemand will das Risiko tragen, das Ann während der Arbeit mit Kindern ihr Bewusstsein verliert.
Sie bekommt einen halbjährigen Rheumaschub.
Der Herzschrittmacher ist nun zwei Jahre in ihr. Durch ihren kurzen Tod, die Rechenschwäche und den Herzschrittmacher verliert sie weitere Freunde. Viele wissen nicht wie sie mit ihr umgehen sollen. Zwei Freundinnen und ihr Freund bleiben. Andere verschwinden langsam aus ihrem Leben. Zunächst gibt es Nachrichten, Besuche im Krankenhaus. Dann lassen die Nachrichten nach, die Antworten und die Besuche auch.
Sie arbeitet derzeit als 450 Euro-Kraft bei Subway. Dort weiß man mit ihr und der Rechenschwäche umzugehen. Sie möchte eine Zeit Berufspraxis sammeln. Sie überlegt zu studieren. Sie wäre gern Bibliothekarin. Doch dann hätte sie ein Semester Statistik. Alternativ möchte sie noch immer Erzieherin werden. Eine eigene Kita leiten ist ihr Traum.
Sie überlegt was sie für Menschen mit Legasthenie und Dyskalkulie machen kann. Am liebsten Aufklärungsarbeit, damit mehr Lehrer und Eltern wissen wie alles ist, um besser helfen und früher erkennen zu können. Dass Lehrern und Erziehern das Thema nicht wahlfrei, sondern verpflichtend vermittelt wird, ist ein Anliegen. Damit alle die, die Kinder betreuen zukünftig sensibler werden. Damit dank frühzeitiger Diagnosen Kindern ein schweres Leben schneller erspart wird.
Betroffenen Familien möchte sie eines sagen: Kinder werden früh verglichen in dieser Gesellschaft. Dabei gibt es das perfekte Kind nicht, keine perfekte Familie. Wenn man das einmal begreift, ist ein ADHS-Kind, ein Kind im Rollstuhl, jedes Kind gleich viel wert. Das muss diese Gesellschaft noch lernen, sagt sie. Wichtig findet sie, dass man dem Leben gegenüber flexibel ist.
Ann engagiert sich heute bei den Jungen Aktiven. Die Gruppe besteht aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Legasthenie oder Dyskalkulie. Darunter auch Juristen, Bürokaufrauen, Mechaniker oder Promovierende aus ganz Deutschland.
Website: Junge Aktive im BVL
Website: Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie e.V.