Unternehmen wollen innovativ sein oder es werden. Zumindest will man in jedem Unternehmen auch zukünftig funktionierende Produkte, Dienstleistungen oder Services.
Ideen und Prototypen benötigen Tests. Produkttests scheinen aber für einige Unternehmen eine Überforderung. Es mangelt an Zeit, Geld und Methodik, um aus guten bessere oder aus alten innovative Produkte zu entwickeln.
Anna Groos liebt und kennt den Bedarf. Sie weiß wie man Produkte und Produktideen von Startups oder Unternehmen mit Spaß und Kostbarkeiten auf ihre Fitness hin untersucht. Kostenlos, ohne eigenen Aufwand vor Ort, bei Pizza und Bier. EIN INTERVIEW.
Marc: Du hast Online-Journalismus studiert, warst Beraterin in einer Kommunikationsagentur, bist Mutter, Freelancerin und gleichzeitig Teilzeitkraft in einer Digitalagentur? Und du organisierst Usability-Tests bzw. Produkttests.
Anna: Ja., ich habe Online-Journalismus mit Schwerpunkt Online-PR studiert. Danach war ich in Agenturen. Habe unter anderem eine Digital-Unit für eine Corporate Publishing-Agentur mit aufgebaut, mich in einem Digital Lab in leaner Produkt- / und Geschäftsmodellentwicklung probiert oder war Freelancerin im Bereich Konzept und Text. Jetzt bin ich bei quäntchen + glück, einer Digitalagentur.
Marc: Wenn ich deine Projekte und Themen aneinanderreihe klingt das so:
Usability Testessen, Vorsitzende Digitale Darmstadt, dort den zweijährigen Webmontag, New Work, PR-Nachwuchs-Intiative #30u30, Digitalcamp, quäntchen + glück, dort “internes StartUp” das sich deinen Aussagen zufolge zu einem Ideeninkubator verwandelt hat. Zudem die Themen lean und agil. Wofür schlägt dein Herz am meisten?
Anna: Die Reihenfolge ist schwierig, die ändert sich ständig. Es gibt viele Ideen. Aber mit Kleinkind am Ende zu wenig Zeit für alles.
Mir macht die Arbeit mit der Digitalen Darmstadt sehr Spaß. Weil in diesem Verein so tolle, kreative Leute stecken. Gemeinsam organisieren wir seit zwei Jahren den Darmstädter Webmontag. Mich interessiert die Frage, wie man Arbeitsweisen aus dem Lean Startup in klassische Unternehmen integrieren kann. Und wie man hinbekommt, dass sich auch Kommunikationsabteilungen mehr mit Zielgruppen-Exploring und Ideen-Fassaden beschäftigen. Eine Denkweise, die vielleicht in vielen Produktmanagement-Abteilungen angekommen – in der Kommunikationsabteilung aber noch keineswegs verbreitet ist.
Verlasse früh deinen Schreibtisch!
Marc: Zielgruppen-Exploring und Ideen-Fassaden, was verstehst du darunter?
Anna: Im Prinzip kann man das in einem Satz zusammenfassen: Verlasse früh deinen Schreibtisch!
Klassische Konzepte entstehen noch oft in einem Büro – ohne dass der/die Konzepter/in jemals mit der Zielgruppe Kontakt hatte oder getestet hat ob eine Idee den Nerv derselben trifft.
Ein Beispiel dafür ist vielleicht unser Usability Testessen, wo wir ein Produkttest durchführen.
Marc: Sprich draußen mit den Kunden oder die die es werden wollen, Austausch initiieren?
Anna: Wir haben es ursprünglich ins Leben gerufen um Websites, Apps und andere digitale Produkte an Nutzergruppen zu testen. Zuerst nur unsere eigenen, später auch bei Agenturen und Unternehmen. Mittlerweile ist uns klar, dass man damit mehr machen kann. Beim letzten Testessen in Darmstadt haben wir beispielsweise nur ein grobes Homepage-Konzept auf Akzeptanz und Verständnis getestet. Mit Usability hatte das wenig zu tun aber es war wichtig, schon an diesem Punkt den Schreibtisch zu verlassen und die Idee der Startseite an echten Menschen zu testen.
Nutzer und Entwickler kommen zusammen
Marc: Zielgruppen Exploring dürfte manchen Unternehmen aufwendig erscheinen. Ich vermute deswegen habt ihr beim Konzept des “Testessens” eine Idee entwickelt, wie die potentiellen User in die Unternehmen kommen, um ein konkretes Produkt oder eine Dienstleistung zu testen?
Anna: Zielgruppen-Exploring ist aufwändig, ja. Das kann in Gänze auch das Testessen keinesfalls ersetzen. Das Usability Testessen ist höchstens eine Ergänzung in bestimmten Projektphasen. Die tiefe Beschäftigung mit der Zielgruppe und das Verständnis ihrer Ziele und Bedürfnisse ist immer ein Stück Arbeit.
Beim Testessen geht es eigentlich vor allem darum Usability-Fehler herauszufinden. Das Konzept kurz erklärt: Nutzer und Entwickler kommen zusammen und machen gemeinsam ihre Produkte nutzerfreundlicher. Wir haben dafür eine Art Speed-Testing entwickelt, in dem an einem Abend pro Teststation sechs Nutzer mit der Thinking-Aloud-Methode Websites, App oder Wireframes testen können. Meist wiederholen sich die Fehler nach der dritten oder vierten Runde schon und man bekommt viele ungefilterte Insights darüber, wo es noch klemmt.
Wir beobachten, dass sich im Verlauf der Zeit das Verhältnis zum Entwicklungsprozess von digitalen Produkten verändert. Die Organisationen binden Nutzerinnen und Nutzer immer früher und immer mehr mit ein. Weil sie wissen dass es etwas bringt. Einige Unternehmen machen mittlerweile kleine eigene Testessen mit Kolleginnen und Kollegen in der Kantine.
Wenn’s ein Problem gibt, mach eine Party draus
Marc: Das klingt, wenngleich auch kein vollwertiger Ersatz, wie du sagst, für das Exploring der Zielgruppe, nach instant User-Nähe!
Usability Testessen Kostenpunkt für das Unternehmen: Bier und Pizza für die Gäste? Gibt es das in ganz Deutschland oder wie organisiert ihr die Community der Test-User?
Anna: User-Nähe bedeutet es auf jeden Fall. Ursprünglich hat mein Kollege und Freund Philipp (@unparteiisch) das Testessen ins Leben gerufen, weil er das Problem hatte, nicht genügend unterschiedliche Testnutzer für seine App zu finden. Und nach dem Motto “Wenn’s ein Problem gibt, mach eine Party draus” haben wir Pizza und Bier hinzugefügt – und schwupps, kamen die Leute gern vorbei, um in unbekannte Produkte reinzuschnuppern oder eben Produkttests für bestehende Produkte durchzuführen.
Wenn Unternehmen Gastgeber eines Testessens werden wollen, bedeutet das für sie kaum Aufwand. Wir übernehmen die komplette Organisation und die Teilnehmerakquise. Mittlerweile haben wir recht starke Verteiler aufgebaut. Unternehmen bestellen nur Pizza, Bier und Brause für alle und den Rest organisieren wir. Wer Lust hat, Gastgeber zu werden, kann sich hier »> mal umschauen.
Vor etwa zwei Jahren haben wir uns entschieden, das Testessen unter CC-Lizenz zu stellen und das Konzept inklusive aller Materialien für andere Teams zugänglich zu machen. Wir wollen mit Nutzerfreundlichkeit das Land überschwemmen und digitale Produkte überall besser bedienbar machen.
Da wir im Kern-Team in Darmstadt nur drei Personen sind und somit maximal sechs Arme haben, freuen wir uns über Teams, die das Testessen in ihre Stadt holen wollen. Mittlerweile gibt es Usability Testessen in ganz Deutschland und sogar eins in Österreich. Die Teams arbeiten autark, wir stehen aber in einer Slack-Gruppe in permanentem Austausch.
Das Usability Testessen ist auf jeden Fall ein Herzensprojekt, das sehr viel Spaß macht.
Dialog: Darum geht es im Kern
Marc: Das frühzeitige Verständnis für Zielgruppen ist für alle Unternehmen jeden Alters relevant. Ist es durch die Digitalisierung schwieriger geworden Zielgruppen zu durchleuchten bzw. sie aufzufinden, um sie dann zu verstehen?
Anna: Ich glaube, das kann man so pauschal nicht sagen. Es kommt auf die jeweilige Zielgruppe an. In einem aktuellen Projekt besteht die Zielgruppe aus Malermeistern – der Kundenzielgruppe des Unternehmens, das uns beauftragt hat. Zu der hatten sie ohnehin via Vertrieb Kontakt, nutzten diesen Kontakt aber nicht wirklich bei der digitalen Produktentwicklung. Da war es einfach Kontakt herzustellen, Interviews zu führen und gemeinsame Ideen-Workshops zu machen.
Bei Unternehmen die ihre Zielgruppe nicht genau kennen, ist der Dialog natürlich schwieriger. Denn darum geht es im Kern. Ich bin überzeugt, dass quantitative Daten die man heute durch Recherche recht leicht erheben kann, immer mit qualitativen Daten aus Interviews ergänzt werden müssen, um Verständnis zu entwickeln.
Ein Beispiel aus einem Testessen: Ein Teilnehmer testete seinen Online Shop. Laut Google Analytics gab es im Checkout einen Button, den jeder Nutzer klickte. Der erfolgreichste Button des ganzen Shops. Während des Testessens stellte sich heraus, dass genau dieser Button zwar von allen geklickt wurde – allerdings immer mit dem Ausspruch “Häää, wassn das für’n Button?! Ich klick mal da drauf.” Reine Analytics-Daten waren in dem Fall also komplett wertlos.
Marc: Eine bessere Qualitätsprüfung für einen Status quo in Sachen Produktentwicklung und Usability gibt es kaum. Die Kosten sind mehr als überschaubar. Jedes Unternehmen kann das Testessen für seine digitalen Produkte oder Dienstleistungen bestellen? Gleich wo man in Deutschland sitzt?
Anna: “Bestellen” kann man Testessen nicht. Man kann sich höchstens als Gastgeber bewerben. Die Teilnehmer sind meist random ausgewählt. Wir achten nur darauf, nicht zu viele “Experten” einzuladen und die Gruppe im Alter und Geschlecht möglichst divers zu gestalten.
Das Produkt muss nicht fertig sein — eine grobe Idee reicht aus
Marc: Kommen wir auf den zweiten Punkt, die “Ideen-Fassaden” zu sprechen: Was genau verstehst du darunter?
Anna: Manchmal hat man eine Produktidee, von der man überzeugt ist, dass es genau die Idee ist, auf die die Menschheit gewartet hat. Eine App, ein Shop oder eine Dienstleistung vielleicht. Doch die zu entwickeln würde sehr viel Zeit und Geld kosten. Was wir stattdessen tun ist eine Fassade aufzubauen. Ähnlich wie in einem Western, in dem die Hausfassaden nur aus Pappe bestehen, teasern wir das Produkt auf einer Landing Page, einem Flyer oder in einem Video an und messen das Echo aus der Zielgruppe. Würde wirklich jemand den “Jetzt kaufen”- oder den “Download”-Button klicken? Wenn ja, dann ist das ein gutes Zeichen dafür, dass das Produkt Erfolg haben kann. Wenn nicht, kann man mit wenig Aufwand feinjustieren und es noch einmal versuchen.
Hinter dem “Jetzt kaufen”-Button versteckt sich meist nur ein Dialogfeld (“Cool dass du dich für Produkt XY interessierst, gib uns deine Mailadresse, wir melden uns, wenn wir so weit sind”).
Das heißt, das Produkt muss dafür nicht fertig sein. Eine grobe Idee reicht aus. Im Entwicklungsprozess steht die Fassade noch vor dem Prototypen. Sie ist quasi der “Proof of Kaufen” für das Konzept. Dann erst kann man über Flows oder Design nachdenken.
Mein Lieblings-Podcast KPKP hat sich auch mit Fassaden beschäftigt, falls es jemanden näher interessiert »>
Marc: Wie generiert ihr die Zielgruppe? Baut ihr die Communities auf? Und was kostet mich das als Ideengeber, Gründer, Produktentwickler?
Anna: Man muss kreativ sein. Manchmal helfen uns simple Dinge wie Google- oder Facebook-Ads. Die sind leicht auf bestimmte Zielgruppen zuzuspitzen und man kann sie feinjustieren, wenn sie nach einer bestimmten Zeit nicht funktionieren.
Manchmal ist die Zielgruppe aber auch lokaler, dann lohnt sich vielleicht ein Flyer oder ein Aushang in der Stadt. Dann ist der “Proof of Kaufen” vielleicht ein Event, an dem man das “Produkt” vorstellen möchte. Das bewirbt man beispielsweise auf dem Flyer und schaut, wie viele Leute zum Event zusagen. Mit denen kann man dann direkt das erste Fokusgruppengespräch machen. Denn es sind ja genau die Leute, die sich für dein Produkt interessieren.
Die Kosten sind unterschiedlich. Als Startup kann man sehr wahrscheinlich alles selbst machen, wenn man bei der Fassadengestaltung kreativ ist. Oft kann man einfache Designs kaufen oder WordPress Themes benutzen. Es geht einfach darum, dass es nicht zu billig aussieht und man das Grundkonzept der Idee versteht. Mehr muss erst mal nicht dahinter stehen. Je simpler desto besser.
Marc: Sind das Usability Testessen und die Ideen Fassaden für dein Networking oder wer profitiert eigentlich von dem ganzen Aufwand?
Anna: Wir setzen Fassaden tatsächlich in Kundenprojekten ein um verschiedene Ideen an verschiedenen Zielgruppe zu testen.
Das Usability Testessen ist natürlich für das eigene Netzwerk gut (wobei für mich immer der Spaß im Vordergrund steht). Es gibt mittlerweile aber auch die Möglichkeit, ein von quäntchen + glück organisiertes “Corporate-Testessen” im eigenen Unternehmen mit einer zum Produkt und Unternehmen passenden Zielgruppe zu realisieren. Dann natürlich nicht nur für Pizza und Bier.
Marc: Meinen Dank für diesen kleinen spannenden Einblick.
Anna: Es hat mich gefreut!
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